Innehalten, im Moment leben, achtsam sein… Das ist leichter gesagt als getan, nicht wahr? Denn meistens rennen wir von einem Termin zum nächsten, zwischen den Terminen checken wir noch schnell Emails auf unseren Smartphones, abends nach der Arbeit sind wir empfangsbereit. Das Smartphone liegt den ganzen Tag neben uns. Quasi ‚Auf Abruf bereit‘. Oft wissen wir gar nicht, wo uns der Kopf steht.
Dabei haben wir alle physische und psychische Grenzen und können langfristig mit der unaufhaltsamen Entwicklung gar nicht mithalten. Um Krankheiten wie Burnout, Depression etc. gegenzuwirken, braucht es etwas ganz anderes. Deshalb sind gerade in unserer heutigen Zeit Innehalten und den Moment genießen immens wichtig geworden.
Wenn es um ‚Leben genießen‘ und ‚im Moment leben‘ geht, haben die Menschen im Orient uns Menschen im Westen einiges voraus: Man hat das Gefühl, sie haben es noch nicht verlernt, im Moment zu leben, den Augenblick zu genießen und manchmal die Zeit zu vergessen. Szenen kommen mir in den Sinn: Menschen, die im Orient in Cafés sitzen, gemeinsam seelenruhig Tawla (Backgammon) spielen oder ihre Shisha genüsslich rauchen; Menschen, die abends mit einer Dose Cola in der Hand am Flussufer zusammensitzen und einfach die Zeit vergessen. Ein arabisches Sprichwort bringt es auf den Punkt: ‚Die Europäer haben die Uhr , die Araber die Zeit.‘
Beten ist eine Art innezuhalten
Ich erinnere mich an eine Situation in meiner Zeit in Ägypten: ich saß mit einem Kollegen am Rechner in der Arbeit. Plötzlich meinte er: ‘Annette, just continue on your own. I’ll be back in a few minutes, I am going to pray.’ – ‚Annette, mach kurz ohne mich weiter. Ich bin gleich zurück, ich gehe zum Beten.‘ Für Moslems ist das eine ganz normale Situation, für mich war es in dem Moment einfach nur eins: bewundernswert. Sich die Zeit zu nehmen, innezuhalten, eine Pause bei der Arbeit einzulegen, um zu Gott zu beten, ist einfach unbeschreiblich.
Ich habe auch das Gefühl, dass Menschen im Orient oft wertschätzender miteinander umgehen, Menschen unterstützen sich gegenseitig und nehmen sich Zeit für einander. Es scheint, als lachen Menschen im Orient mehr miteinander, und weniger übereinander. Das Miteinander und Zusammengehörigkeit stehen dort im Mittelpunkt, mehr als Selbstverwirklichung und Individualität. Das ‚Wir‘ steht im Fokus, nicht das ‚Ich‘. Und genau das gibt ihnen Kraft, die wir alle so sehr brauchen.
Ich persönlich werde oft gefragt, woher das denn kommt, dass ich mich so für den Orient interessiere, oft dort hinreise und sogar dort gelebt habe… Rational ist diese Frage nicht zu beantworten. Meist antworte ich: ‚Als ich vor vielen Jahren das erste Mal zusammen mit meiner Familie nach Ägypten reiste, war es für mich wie ‚Nach Hause kommen‘.
Im Orient Kraft tanken
Heute sage ich oft: ‚Ich muss mindestens einmal im Jahr in den Orient, um meine Akkus aufzuladen.‘ Es mag für viele Menschen hier unverständlich sein, aber ich tanke wirklich dort am meisten Kraft.
Und im Zeitalter der Digitalisierung sind es vielleicht gerade der Orient und die afrikanischen Staaten, die uns davor bewahren, total in den Irrsinn abzudriften. Sie sind quasi ein Gegengewicht zu Fortschritt, Gewinn- und Prozessoptimierung, zu höher, schneller, weiter… In meinen Augen sollten sie gar nicht dem Vorbild des Westens folgen, denn dann würden sie ein Leben führen, das nicht das ihre ist. Ich glaube, dass es immens wichtig ist, dass der Orient sich seine Ursprünglichkeit bewahrt.
Nehmen wir das Handwerk als Beispiel. Wenn wir durch die Souqs von Fes oder den Khan el Khalili Bazar in Kairo gehen, sehen wir überall noch Menschen, die einem bestimmten Handwerk nachgehen. Dort werden viele Dinge wirklich noch komplett von Hand gemacht. Hier geht es nicht um Gewinnmaximierung, sondern es geht um Originalität. Und das Arbeiten mit den Händen hilft den Menschen, bei sich zu sein und in sich zu ruhen.
Vielleicht sind gerade deshalb Dinge wie Handarbeiten, Stricken oder Töpfern auch bei uns wieder in Mode gekommen. Yoga-Schulen haben seit Jahren großen Zulauf. Denn genau dieses Innehalten, bei sich sein, ist das, was wir in dieser schnelllebigen Zeit so unendlich bauchen.
Wir haben verlernt, in uns hineinzuhören
In den vergangenen Jahrhunderten gewannen in Europa und in Nordamerika Ratio und Verstand an Bedeutung. Doch gleichzeitig verlernten wir, auf unser Gefühl zu vertrauen. Frauen bekamen zwar mehr Rechte und mehr Verantwortung, Menschenrechte wurden verbessert, gleichzeitig verlernten wir aber auf unser Innerstes, auf unseren Instinkt zu hören… in uns hineinzuhören.
Ich glaube, dass wir von unseren neuen Mitbürgern, von den Flüchtlingen aus Syrien, Afghanistan, Irak etc. und natürlich auch von anderen Menschen aus diesem Kulturkreise eine ganze Menge lernen können, nämlich Softskills wie Innehalten, Zusammengehörigkeit, füreinander da sein, sich füreinander Zeit nehmen. Es ist wichtig, die Kehrseite der Medaille zu sehen und auch die positiven Aspekte der Flüchtlingswelle wahrzunehmen.
Im Grunde haben wir viel mehr gemeinsam, als wir denken… Das stellte ich schon als junges Mädchen im Alter von 17 Jahren fest. Ich hatte das Glück, von meinen Eltern nach Boston aufs Bentley College für einen Englisch-Sprachkurs geschickt zu werden. Wir waren ca. 100 Sprachstudenten von überall auf der Welt: Frankreich, Italien, Spanien, Deutschland, Brasilien, Paraguay, Uruguay, Marokko, China, Japan, um nur einige zu nennen. Wir lebten einen Monat lang gemeinsam auf dem Campus, lernten zusammen Englisch und verbrachten viel Zeit miteinander. Schon damals realisierte ich: Es ist total egal, wo wir alle herkommen. Letztendlich haben wir alle die gleichen Träume und Wünsche: eine liebe Familie und gute Freunde, ein schönes Zuhause, einen Job, der uns erfüllt und natürlich Zeit.
In diesem Sinne: Nehmt Euch Zeit für einander und lebt im Moment.